Home Leben ist Sterben

Das Leben ist für uns Menschen eine eigenartige Sache. Wir werden als kleine, vernünftige und wundersame Wesen geboren, die neugierig sind zu erfahren, was das Leben ist und was es uns geben könnte. Dann altern wir und werden langsam immer mehr wie die Erde, auf der wir gehen - voller Erinnerungen; ein Wille weiterzuleben, zu erfahren, zu erkunden, nicht zu sterben – doch der Tod ist unser einziger Freund, wenn die Zeit unserer Reise in die Ewigkeit gekommen ist.

Es ist ein Paradoxon, denn das Leben hat weder einen "Anfang", noch ein "Ende" – es ist ewig und die Ewigkeit kennt das Konzept der Zeit nicht. Wir Menschen wissen das, können diese Tatsache aber emotional weder verstehen, noch annehmen. Unser Verstand sagt uns, dass auch wir zu Staub zerfallen und durch ewigen Energieaustausch von einem Zustand in den anderen übertragen werden. So funktioniert nämlich unser Universum; es leitet Energie zwischen verschiedene Positionen und lässt sie entweder aufsteigen, um zu erkunden, oder absteigen, um zu sterben und zu zerfallen. So ist das Leben – und die Ewigkeit.

Eines der emotionalsten Erlebnisse, die man haben kann, ist den geistigen Zerfall einer Person mitzuerleben, die einem sehr nahe steht – die ihre Energie zurücklässt, als ob ihr Lebenswille stockt und verblasst. Eine Person, die schon von ihrer frühen Jugend an begonnen hat, eine Gesellschaft für die nächsten Generationen zu erschaffen und aufzubauen. Eine Person mit viel Potential, mit viel Geschick und vielen Fähigkeiten – eine Existenz, die anscheinend bloß erschaffen wurde, um die Wahrnehmung der Realität, der Welt, in der wir alle leben, langsam zu verlieren.

Wenn man eine solche Person trifft, die einhundert Jahre alt geworden ist, die nicht weiß, wer sie gerade besucht, was um sie herum geschieht, wohin sie gehen soll, was sie denken soll, was der morgige Tag bringen wird, schaltet sich der emotionale Verstand ein: Wieso? Wieso sollten wir weiterleben, wenn jegliche Energie aus unseren Leben geflossen ist? Was ist das Leben ohne eine brennende Seele? Menschen, die Widerstand leisten, kämpfen, in die Schlacht marschieren, den Frieden begrüßen, Eide des Hasses oder der Liebe leisten – bewundern wir sie nicht ausschließlich deswegen? Wegen der Überwindung ihres Körpers, um den Geist zufriedenzustellen und weiterzuentwickeln – sich von der Materie loszulösen und sich mit dem Abstrakten zu vereinigen? Unsere Welt besteht aus Ideen und diejenigen, die das erkennen, werden aktiv auf Ziele hinarbeiten, die die Materie bloß benötigt, um Veränderung zu bewirken und die Ideen zu überarbeiten.

Sobald man das Alter begegnet, mit dem Tod der Seele konfrontiert wird, erkennt man gewisse Dinge: 1) Dass es einen großen Unterschied zwischen leben und leben gibt. 2) Dass die Natur ihren Weg gehen muss, und dass es keine Möglichkeit gibt, diesem Kurs zu entfliehen. Ersteres ist in der romantischen Weltanschauung verwurzelt – leben heißt neue Erfahrungen machen, immer höhere Ziele und Geisteszustände anzustreben, die feinen Sinneswahrnehmungen des Lebens zu erkunden und zu genießen und an das Ewige festzuhalten, das das menschliche Wesen formt und nährt – mit Ehre zu erobern und auf gleiche Weise zu sterben.

Dies ist eine sehr alte Weise das Alter und das Altern zu betrachten. In vorchristlicher Zeit sind die nordischen Männer und Frauen, als sie merkten, dass sie keinen Beitrag für Familie oder Gesellschaft mehr leisten konnten, entweder von einer Klippe gesprungen, oder einfach in die Wälder gegangen, um zu sterben. Im Gegensatz zum modernen Menschen, der das Leben bloß als Zustand der Materie betrachtet, haben sie begriffen, dass das Leben ohne die Kraft zu erkunden und herauszufordern, ohne die Bedeutung, die ihre uralten Götter und Göttinnen ihnen gegeben haben, ohne etwas, das des Lebens und des Kämpfens Wert war, keine Bedeutung hatte. Lebendig sein bedeutete leben, nicht nur atmen und existieren.

Obwohl dies ein sehr hartes und brutales Leben zur Folge hatte, gab es trotzdem eine sehr realistische und bedeutungsvolle Erkenntnis: Wir sind nur geboren, um zu sterben, wieso dann nicht für etwas Leben, das den Tod transzendiert? Der moderne Mensch kann nicht über seinen Tod hinaussehen und weil er nur mit der modernen Gesellschaft und der modernen Lebensweise vertraut ist, wird er emotional impotent sobald er mit einem alten Menschen konfrontiert wird, bei dem der Geist schon so weit abgetragen ist, dass Kinder und Erinnerungen nur bruchstückhafte Bilder sind, als ob ein Fotoalbum zerrissen und überall verstreut wurde – unerkennbare Situationen und vergessene Erfahrungen.

Für den modernen Menschen ist das Leben einfach: Heranwachsen, studieren, arbeiten, eine Familie gründen, zerfallen, sterben. Nur unbedeutende und sich wiederholende Aufgaben warten auf ihn. Dies ist schon erstaunlich, da sich alle Menschen tief im Inneren nach etwas anderes sehnen. Während sie zur Arbeit gehen und Geld erhalten, um die Miete zu bezahlen, ist keiner innerlich froh oder zufrieden; wenn Gewalt und Anarchie auf den Straßen herrschen, wenn die Kultur dämonisiert und mit Konsumprodukten und Idealen aus Plastik ersetzt wird, wenn das Familienleben ein Durcheinander ist und sich Mann und Frau nicht auf die Rollen, die sie spielen wollen, einigen können, wenn Kinder instabil, unsicher und emotional geschädigt sind – wir können, wie ein Baum, nicht ohne die Wurzeln leben, die uns nähren und Leben spenden. Die am schwersten arbeitenden Individuen in unserer Gesellschaft werden sogar mit den gleichen ewigen Grundsätzen unserer Vorväter konfrontiert: Liebe, kulturelle Bindungen, Erfahrungen mit der Natur und Krieg. Entweder wir schätzen sie für das, was sie sind, oder wir fallen in die Schemen der modernen Lebensweise zurück: "Ich muss arbeiten, ich muss wählen, ich muss gehorchen, ich muss dies und jenes unterstützen, weil alle Alternativen böse sind." Es ist kein Wunder, dass die meisten Menschen in unserer Gesellschaft entweder geisteskrank oder emotional geschädigt sind.

Diese materielle Weltanschauung, nämlich dass wir leben, solange wir atmen, verfällt bei jedem mit der Zeit, denn kein menschliches Wesen ist damit zufrieden einfach nur "zu leben". Leben bedeutet eine aktive Rolle zu spielen. Es ist nicht Leben acht Stunden in einem Büro zu verbringen und Papier durchzugehen, das nur noch mehr Papier zur Folge hat, onie zu zweifeln und nie die andere Seite des Flusses zu erkunden, sich in seinem kleinen Geist einzusperren und nie über das, was vor einem liegt, hinwegzuschauen – es ist Tod. Denn der Tod ist nicht einfach ein Zustand in dem unser Körper zerfällt und verwest, sondern eine Veränderung des geistigen Zustandes. Ein Mensch, der jahrelang im Dämmerzustand lebt, der nicht weiß, was um ihn herum geschieht, der nicht lesen, schreiben, oder Musik hören kann, der das Enkelkind nicht vom Postboten unterscheiden kann, ist nicht am Leben – sondern am Sterben.

Der moderne Mensch kann und will dies nicht sehen, da die Konsequenz eine neue Bedeutung seines Lebens wäre. Die meisten Menschen wollen diese Frage nicht fragen, da sie zur Erkenntnis führen könnte, dass es ihren Leben an Bedeutung mangelt und dass der Tod vielleicht mehr als ein materieller Verlust ist. Der Romantiker fürchtet den materiellen Tod nicht, weil er unausweichlich ist – wir werden alle früher oder später sterben. Stattdessen fürchtet er den Tag, an dem sein Geist so abgestumpft, verwirrt und verwelkt ist, dass er nicht mehr klar denken kann und die Gedanken im Nebel verschwinden. Ein Ort, an dem die Häuser, die Luft und die Wälder vom Nebel verdeckt und wir in unserer eigenen Scheinwelt verloren sind. Ein Ort, an dem wir Stimmen hören, die uns führen wollen: "Erinnerst du dich an mich? Siehst du mich? Ich bin dein Enkel, erinnerst du dich?", und ihnen hinterherrennen. Wir rennen in eine Sackgasse hinein, denn wir schauen uns um und sehen und fühlen nur Nebel.

Ungewiss und ziellos umherzuirren und nicht zu wissen, wohin zu rennen, wo sich zu verstecken, wo überhaupt unterzukommen – für den Romantiker ist dies der wahre Tod. Dies ist der Zustand, in dem das Leben nirgendwo hinführt, außer zum allmählichen Ende. Unsere Vorfahren waren klug, denn sie erkannten, dass das Leben eine Bedeutung haben musste, sonst war es nicht lebenswert. Die heidnische nordische Religion fängt von einem Zeitpunkt der Leere an, die sich selber widerspricht und darauf automatisch mit der immerwährenden Errichtung einer wachsenden Realität beginnt. Unsere Vorfahren lebten auf diese Art; sie ritten in den Krieg, um ihre Kraft und ihren Mut herauszufordern, sie hatten Kinder, die nach ihrem eigenen Tod weiterleben würden, sie verehrten Götter und Mutter Natur, um die Entwicklung des Lebens voranzubringen – ihre Weltanschauung war keine materielle, sondern eine idealistische und mutige. Der, der es gewagt hat, den Tod in die Augen zu schauen, hat wahrlich die Bedeutung des Lebens gekannt. Leben ist sterben.

Der moderne Mensch fürchtet diese Idee und die Romantik im Allgemeinen, weil sie bedeuten, dass die meisten Menschen in unserer modernen Gesellschaft leere und nutzlose Leben führen. Dass sie in irgendeine Richtung wandern, aber nicht wissen, was sie denken und wofür sie arbeiten sollen. Denn Produkte zu konsumieren, um froh zu bleiben, wegen persönlicher Inkompetenz und ungesunder Ernährung faul und fett zu werden, in einer Familie zu leben, die innerlich zerbrochen ist, all das zu zerstören, das schreit: "Ich bin Leben, ich bin die Vergangenheit und die Zukunft – ich bin dein Leben, aber auch dein absoluter Tod!" – sind die Symptome schon gestorben zu sein. Der moderne Mensch wird und kann nicht alt werden. Er wird niemals den Tag erleben, an dem der Zerfall einsetzt und sich der Tod nähert. Der moderne Mensch ist schon tot, denn er hat nie gelebt.

13 Juli, 2006

Our gratitude to "1191.4814.5102" for this translation.


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